Jetzt wo, alles längst verjährt und – wie ich hoffe – vergeben ist, kann ich es ja gestehen: Wir, mein Cousin Edgar und ich, wollten einmal einen Maibaum stehlen und sind – wie ich heute sagen muss – glücklicherweise daran gescheitert. Wir hatten als Teenager absolut keine Ahnung von den Gepflogenheiten beim Maibaumstehlen, hatten keine Ahnung, wie man einen Maibaum stiehlt. Nicht einmal, was wir mit dem gestohlenen Maibaum tun würden, hatten wir uns überlegt.
In einer Straße in St. Valentin hatten die Bewohner einen Maibaum aufgestellt. Den wollten wir stehlen. Zuerst galt es, sich heimlich in der Nacht davon zu stehlen. Ich bewohnte damals ein Kellerzimmer, aus dem es leicht war, heraus zu klettern.
Edgar wohnte ein paar Häuser weiter und brauchte eine Räuberleiter, um aus dem Fenster im Erdgeschoß zu gelangen. Ich ging zu dem Haus und um Edgar aufzuwecken, zog an der Schnur, die Edgar aus dem Fenster hängen ließ. Die Schnur war an einem großen Stein in Edgars Zimmer befestigt. Durch mein Ziehen begann der Stein zu rumpeln und Edgar wachte auf. Da es in dem Haus oft rumpelte, wenn ein Zug vorbeifuhr, schöpften Edgars Eltern keinen Verdacht. Ich half ihm aus dem Fenster und wir schritten zur Tat. Unsere einzige Vorbereitung auf das Maibaumstehlen bestand aus einer Fuchsschwanz-Säge, die ich in der Garage meiner Eltern gefunden hatte.
Wir schlenderten zu dem Maibaum und ich begann etwa einen Meter oberhalb des Bodens zu sägen. Da öffnete sich ein Fenster eines nahen Hauses und eine Frau schrie uns mit Worten an, an die ich mich nicht erinnere. Ich rief: „Komm Fraunz!“ und Edgar rief: „Renn, Poidi!“. Wir schnappten die Säge und rannten davon.
Ich half Edgar per Räuberleiter in sein Fenster und ging heim und kletterte durchs Kellerfenster in mein Zimmer. Durch das Fenster konnte ich gerade noch die Spitze des Maibaums sehen. Und wie ich schon im Zimmer war und das Fenster schloss, sah ich, wie sich die Spitze zur Seite neigte und hörte, wie der Maibaum mit einem lauten Knarren und anschließendem „Fradompf!“ umfiel.
Und nach nur wenigen Augenblicken hörte ich aufgeregte Stimmen durcheinanderrufen und Leute, die auf Kochtöpfen trommelten, um alle Nachbarn aufzuwecken, die sich – so konnte ich es in meinem verdunkelten Zimmer hören – sofort auf die Suche nach den Übeltätern machten. Da war ich heilfroh, dass sich Edgar und ich rechtzeitig aus dem Staub gemacht hatten. Da sind wir gerade noch einer ordentlichen Tracht Prügel entgangen, ganz abgesehen von der Schmach, wenn alle erfahren hätten, dass die braven Mottas-Buben einen Maibaum auf derart schändliche Weise umgesägt hatten.
Am nächsten Tag besuchte unser Nachbar der Herr Tertsch meine Eltern und berichtete von dem Verbrechen. Ich hörte seine Schilderungen und zeigte Interesse, Überraschung und Empörung. Der Herr Tertsch erzählte uns, dass da eine Bande, die auf Mopeds gekommen und entkommen war, den Maibaum umgesägt hatte. Dabei hätten sie sich sehr geschickt angestellt, denn rund um den Baum war ein elektrisches Kabel gespannt. Wenn man angekommen wäre, hätte sich helles Licht eingeschaltet und eine Glocke hätte zu läuten begonnen. Aber die Bandenmitglieder hatten zuerst die Falle deaktiviert und dann den Maibaum mit einer Motorsäge umgesägt.
Dazu muss ich bekennen: Weder ich noch Edgar hatten den Draht bemerkt oder etwas davon gewusst. Wenn der Alarm geschlagen hätte, hätten wir die Tracht Prügel noch der vor dem Maibaumansägen bezogen.
Heute weiß ich, dass wir damals alle Regeln rund ums Maibaumstehlen missachtet hatten. Aber wir waren junge Teenager und niemand hatte uns in Volksbrauchtümer eingeweiht. Denn man bedenke: Das war lange vor Internet, E-Mail und Handy. Das war die Zeit des Vierteltelefons.